Mitten in einer schwer zu durchschauenden Weltgeschichte gibt es, recht persönlich, denkwürdige Überraschungen. So führte ganze 45 Jahre, nachdem ich meine Heimatstadt Warnsdorf verlassen musste, meine Autofahrt so nahe dort vorbei, dass ich dem Drang nicht widerstehen konnte, nun endlich die Landschaft meiner Kindheitserinnerungen wieder zu betreten. Da habe ich auf der Höhe des Schönborns nachdenklich innegehalten, am hochragenden Turm der Kirche hinaufgeschaut und sogar durch eine Luke im Portal einen Blick ins Innere getan.
Seitdem habe ich es nie versäumt, den kleinen Friedhof auf der Anhöhe zu besuchen. Und da geschah es einmal: Während ich dort umherging, machten sich zwei Frauen mit Sorgfalt an den Gräbern zu schaffen. Es waren, wie ich dann bald erfuhr, Maria Henke und Waltraud Bena. Zuerst aber richtete sich die ältere von ihrer Arbeit auf und fragte mich: „Suchen Sie etwas?“ Sie hatte mich wohl für eine jener verdächtigen Personen gehalten, die gerade auf Friedhöfen danach spähen, ob da wohl etwas „brauchbar“ wäre. Umso überraschter war Maria Henke, inzwischen 94 Jahre alt, von ihren Verehrern einfach „Minke“ genannt, dass mit mir der Sohn vom „Kromer Annl“ aus der Gastwirtschaft „Goldflössel“ vor ihr stand. Meine Mutter wäre inzwischen hundert Jahre alt geworden, – „Minke“ hat sie natürlich noch gekannt.
57Jahre und mehr hat diese beherzte Schönbornerin mit einigen anderen dort die Stellung gehalten, den Friedhof gepflegt und sich um manches andere gekümmert. Daraus erwächst eine unbestreitbare Autorität, der irgendwann selbst ein Monsignore, wie ich inzwischen einer bin, nicht widerstehen kann. So vernahm ich letztes Jahr im Telefon des Warnsdorfer Dechanten Alexej Balas ihre Stimme und den Befehl, unbedingt am nächsten Sonntag noch einmal auf den Schönborn zu kommen, weil sich da einige Landsleute zur Messfeier träfen. Gehorsam kam ich und geriet so mitten hinein in eine Initiative, die gerade ihren Anfang nahm: eine Aktion zur Rettung des Schönborner Kirchturms.
Wieso das? Der innere Zustand des neuromanischen Raums ist überraschend schön, hell und freundlich, nicht verkommen und eingemottet. Das ist der emsigen Sorge des Dechanten zu verdanken, vor allem aber der Umsicht einiger Frauen, die eine Zeitlang sogar auf halsbrecherische Gerüste gestiegen sind, um die Wände mit eigener Hand zu streichen. Aber der Turm? Ganz exponiert steht er auf der Schönborner Höhe und ist weithin zu sehen. Auf Spaziergängen in Leutersdorf unten im Tal ist mir das zum ersten Mal bewusst geworden. Ein Leuchtturm, ein Ausrufezeichen über der Landschaft, noch dazu auf einer Wasserscheide zwischen Ost und West. Ein solches Ausgesetztsein hat seinen Preis. Wind und Wetter machen dem Turm zu schaffen, und ganz dringend muss allerhand geschehen, damit nicht seine Konstruktion und damit der ganze Bau im Bestand gefährdet werden. Dazu hat sich eine deutsch-tschechische Initiativgruppe formiert. Maria Henke ist Ehrenvorsitzende und notiert in einem kleinen Büchlein erste Spenden, die dann natürlich auf korrektem Wege verwaltet werden.
Waltraud Benas Ehemann Erich hat mich nun kürzlich mit einer großen Zahl wunderschöner Fotaufnahmen überrascht, mit denen er sein Dorf mit wachem Blick, liebevoll, fast poetisch festgehalten hat. Auf manchen Wegen hat er es umrundet, aus vielen Perspektiven noch einmal „entdeckt“. Fast immer aber leuchtet der weiße Kirchturm dem Betrachter entgegen, einmal weit weg, aus der verträumten Landschaft heraus, dann zwischen Birken oder goldenen Grashalmen hindurch, dann ganz nahe durchs Herbstlaub der alten Bäume. Was ist sein Geheimnis, was seine Botschaft?
Erstens, dass er an einer Grenze steht, die Jahrzehnte lang Menschen durch Argwohn, bittere Erinnerungen und politische Systeme trennte. Die Grenzsteine an der Straße nach Rumburg erinnern daran. Nun ist die Grenze offen, und keiner kontrolliert mehr. Der Turm also als Symbol und Signal am Zielpunkt einer Wende, nach der sich nicht nur der „heilige Rest“ auf dem Schönborn so lange und beharrlich gesehnt hat.
Dann aber der Blick nach innen: Da schaut uns der Patron der Kirche, der heilige Franziskus aus Assisi, an. Als junger Mann vernahm dieser vom Kreuz her die Frage: „Franziskus, siehst du nicht, wie mein Haus verfällt?“ Und die Aufforderung: „Komm, und baue es wieder auf!“ Bald merkte der „Poverello“, dass damit mehr gemeint war als die mühsame Renovierung eines Baus, sondern ein Aufbruch, der für das Miteinander unter Menschen, armen und reichen, jungen und alten, glaubenden und suchenden, diesseits und jenseits alter Grenzen und Vorurteile, eine neue Perspektive öffnen konnte. Diese Herausforderung geht mir nach, wenn ich die Schönborner Bilder betrachte und den Turm umkreise.
Mich selber haben die Jahre bis in den äußersten Westen Deutschlands geführt, ans deutsch-holländisch-belgische Dreiländereck nach Aachen. Dort ist mir die Verantwortung für die wunderbare, große Bewegung der deutschen „Sternsinger“ anvertraut. Ein faszinierendes Programm, das uns irgendwie bekannt vorkommt: „Von einem ungewohnten Stern geführt,“ zogen einst die Weisen aus dem Osten los, ohne zu wissen, wohin die Reise gehen würde. Das wissen wir meistens erst „nachher“. Auch bei Franziskus war es so. Aber der Horizont klärt sich immer erst, die Antwort zeichnet sich erst ab, wenn ein erster Schritt gewagt ist.
Monsignore Winfried Pilz
Kirche Franz von Assisi und Friedhof mit Friedhofskapelle in Schönborn (Studanka)
Monsignore Winfried Pilz